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 Bei einer Weinbergfläche von insgesamt...

Rheinhessen

Bei einer Weinbergfläche von insgesamt mehr als 26 000 Hektar, die sich in 24 Groß- und stolze 432 Einzellagen gliedert, reichen im Vergleich zu Mosel, Württemberg oder Pfalz sogar eher bescheidene Hektarerträge von nur wenig mehr als 100 Hektolitern pro Hektar, um Rheinhessen zur unbestritten größten Weinbauregion in Deutschland zu machen. Reben und Wein scheinen hier allgegenwärtig, und es gibt in der ganzen Region überhaupt nur drei Gemeinden, die keine eigenen Rebflächen besitzen.
 Rheinhessen ist wie keine zweite Weinbauregion mit der Liebfrauenmilch verbunden, schließlich liegt der Weinberg, von dem sich der Name dieser besonderen Massenmarke ableitet, auf rheinhessischem Territorium: das Wormser Liebfrauenstift-Kirchenstück, ein echter clos innerhalb der Mauern der Stiftskirche. Außerdem stammen in den letzten Jahrzehnten immer wieder große Mengen für diesen einzigen nach deutschem Weingesetz zugelassenen Sorten- und Gebietsverschnitt mit Qualitätsweinstatus von hier.
 Im Ausland geradezu ein Synonym für deutschen Wein schlechthin geworden, hat die Liebfrauenmilch zweifellos das ihre zum Niedergang des Renommees deutscher Weine beigetragen. Entsprechend war es von nahezu symbolischem Wert für einen grundsätzlichen Neubeginn des deutschen Weinbaus, wenn das lange Zeit vernachlässigte Kirchenstück seit einigen Jahren mit der tatkräftigen Hilfe eines bekannten Niersteiner Weinguts wieder instand gesetzt wird.
 Ebenfalls in Rheinhessen fand die unglückliche Großlagenphilosophie des deutschen Weingesetzes ihren bekanntesten Ausdruck: Oppenheimer Krötenbrunnen und das benachbarte Niersteiner Gute Domtal können heute schlichtweg als Musterbeispiele einer verfehlten Zielrichtung angesehen werden, die letztlich nichts anderes bewirkte, als fast zwei Jahrzehnte lang einem gesunden Qualitätsanspruch die Basis zu entziehen.

JENSEITS VON LIEBFRAUENMILCH

Glücklicherweise hat Rheinhessen sehr viel mehr zu bieten als Liebfrauenmilch, Krötenbrunnen und Gutes Domtal. Vor allem an der so genannten Rheinfront, dem linksrheinischen Steilabfall des rheinhessischen Plateaus zwischen Nackenheim im Norden und Alsheim  im Süden, werden heute wiederhervorragende Weine gekeltert. Auf dem Rotliegenden in Nierstein, einer Schieferformation, dem Resultat einer geologischen Verwerfung, die sich quer zum Rheingrabenbruch zieht, wachsen Rieslinge, die es jederzeit mit den besten Gewächsen aus Rheingau, Mosel und Pfalz aufnehmen können. Sie verbinden die Finesse der Weine aus nördlichen Gebieten mit der Kraft und Würze jener aus südlichen.

Die besten Lagen der Region, wie der Rothenberg in Nackenheim, Pettenthal, Brudersberg, Hipping, Ölberg und Orbel in Nierstein, haben sich deshalb in den letzten Jahren wieder als feste Größen etablieren können. Auch Oppenheim besitzt mit dem Sackträger eine zuverlässige Spitzenlage, aber hier bestehen die Böden nicht mehr aus Rotschieferformationen, sondern aus Löß und kalkhaltigen Mergeln.
 Nur wenige wissen, dass Rheinhessen ein wahres Sortenparadies ist. Aus der Alzeyer Rebenzuchtanstalt sind die meisten Nachkriegszüchtungen hervorgegangen, und Sorten wie Scheurebe oder Dornfelder, der während der jüngsten Rotweinbewegung Aufmerksamkeit erregt, stammen aus ihren Versuchspflanzungen. Das bunte Nebeneinander von klassischen Rebsorten und vielfältigen Zuchtresultaten hat dazu geführt, dass keine einzelne Sorte das rheinhessische Rebenpanorama dominieren konnte. Müller-Thurgau belegt zwar etwa 20 Prozent der Flächen, Silvaner noch rund 12 Prozent, aber alle anderen Sorten wie Riesling, Kerner, Scheurebe, Bacchus, Portugieser, Faberrebe, Morio-Muskat, Spätburgunder, Huxelrebe, Ortega oder Siegerrebe bleiben mehr oder weniger deutlich unter der 10-Prozent-Hürde.

Schließlich darf nicht vergessen werden, dass auch der umweltschonende oder ökologische Weinbau in Rheinhessen bereits in den 1970er Jahren seine ersten Schritte auf deutschem Boden machte und hier seither viele Nachahmer gefunden hat.

(entnommen aus dem vorzüglichen und umfangreichen Werk "Wein" vom André Dominé aus dem Jahre 2000, in Teilen zitiert)

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